Kreuzberger Chronik
Mai 2017 - Ausgabe 189

Open Page

Das Kräutermännlein


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von Karl Ringena

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Es war Anfang der 70er Jahre, als ich mit meinen Kumpels Heiner und Reinhold die Gneisenaustraße entlang lief und die Nummer 65 unsere Aufmerksamkeit auf sich zog: Auf dem Bürgersteig standen lauter Aufsteller, an Wand und Schaufenster hingen selbst geschriebene Plakate: Kalte-Füße-Tee, Schlecht-Sehen-Tee, Dicke-Beine-Tee, Nicht-Riechen-Tee, Schlim- mer-Magen-Tee, Keine-Haare-Tee und und und …

Ich hatte gerade mein Examen als »Staatlich geprüfter Grafik-Designer« gemacht und musste feststellen, dass diese Werbung trotz aller Verstöße gegen die Regeln offenbar gut funktionierte. »Kräuterladen - Friedrich Stake« stand in großen Lettern auf der verblassten Leuchtreklame. Wir betraten wir den Laden: Regale links und rechts bis unter die Decke, voll mit großen, grünlichen Pappkartons, auf deren Schmalseiten in Metall gefasste, handbeschriftete Etiketten über den Inhalt der Schachteln Aufschluss gaben.

»Niemand da?«- Doch! Aus den oberen Gefilden des Raumes erklang ein dünnes Stimmchen: »Womit kann ich den jungen Männern dienen?« Wir blickten und sahen am Ende einer riesigen Leiter in schwindelnder Höhe ein winziges, untersetztes Männlein mit auffallend rundem Kopf und grauem Kittel. Das musste er sein: Friedrich Stake, der Kräuterexperte und vermutlich der Verfasser dieser ungeheuerlichen Plakate. Bedächtig stieg er die Leiter hinab, in der einen Hand eine halb gefüllte Papier-Spitztüte mit einer Mischung seiner Kräuter, in der anderen Hand eine Kräuterschaufel.

»Sie sehen blass aus, junger Mann, ich habe da etwas für Sie! Jeder braucht etwas ganz Persönliches!«, meinte der Kräuterzwerg und musterte dabei Heiner eingehend. »Sie sollten unbedingt meinen Rote-Wangen-Tee probieren, den sollte ich Ihnen unbedingt zusammenmixen … Sie werden sich wundern …« Ich weiß nicht mehr, was ihm der blasse Heiner damals antwortete, jedenfalls schien Herr Stake ein größeres Hörproblem zu haben, man musste ihn förmlich anschreien, damit er überhaupt etwas mitbekam. Das wiederum veranlasste Reinhold zu der Frage: »Haben Sie auch Schlecht-Hören-Tee? Herr Stake schaute etwas verdattert drein, hatte die Frage Gott sei Dank nicht richtig mitbekommen und blickte uns fragend an, weil Heiner und ich uns vor Lachen kaum noch halten konnten.

Wir erklärten dem Herrn Stake, dass uns seine Werbeplakate neugierig gemacht hätten, wir aber im Grunde gesund seien und nichts bräuchten. Er aber gab uns seine Visitenkarte mit, für alle Fälle, denn jeder braucht etwas ganz Persönliches. Ich habe sie heute noch. Obwohl es den Laden schon lange nicht mehr gibt.•

Die Open Page ist unsere journalistisch literarische Open Stage. Sie bietet Platz für jene-Texte, die aus dem üblichen Rahmen fallen. Schreiben Sie uns!


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